Von Rainer Breda
Wie haben die Hildesheimer diesem Anblick entgegengefiebert! Lang, groß, mächtig - so soll das neue Gebäude werden. Der Plan dafür schlummert schon zwei Jahrzehnte in einer Rathausschublade, vor fünf Jahren ist die Ruine des „Hotels Kaiserhof“ abgetragen worden. Und nun ist ein Investor gefunden, der wieder Leben auf das Eckgrundstück an der Bernwardstraße bringen will: Die große Karstadt AG will im kleinen Hildesheim ein Kaufhaus bauen. Aber plötzlich macht der Konzern einen Rückzieher. Und versetzt damit die Stadt in einen Schockzustand.
Doch als Theo Wetterau an jenem nassen Frühlingstag 1974 loszieht, ist das längst Geschichte. Baukräne recken sich dem Fotografen entgegen, der Rohbau der „Kaufhalle“, die das Projekt übernommen hat, weist bereits eine klare Form auf. Das Vorbild steht in Berlin. Wie im Europa-Center am Ku'damm ist ein kombinierter Wohn- und Geschäftskomplex geplant. Zwar nicht so hoch wie der große Bruder, dafür aber länger. Als klares Signal an alle Hildesheim-Besucher: „Wer am Bahnhof ankommt, soll gleich sehen: Das ist eine Großstadt“, sagt Bauhistorikerin Dr. Maike Kozok.
Schräg gegenüber ist ein Jahrzehnt zuvor ein anderer Koloss in den Hildesheimer Himmel gewachsen: 1952 hat die Post an der Hezilostraße gebaut. Auch in den Einkaufsstraßen finden sich die ersten Häuser, die ihre Umgebung deutlich überragen - allen voran die „Blankenburg“, wie der Volksmund den neunstöckigen Turm an der Ecke zwischen Schuh- und Altpetristraße nennt.
Seit mehr als 200 Jahren geht die Kaufmannsfamilie Meyer-Blankenburg an dieser Stelle ihren Geschäften nach, erst um die vergangene Jahrhundertwende hat sie ihr Haus nach einem verheerenden Brand wieder aufbauen müssen. Dann fallen die Bomben. Und wieder fängt die Familie von vorn an. Dabei beschert sie den Hildesheimern mit ihrem Panorama-Hochhaus, wie der 1959 eingeweihte Kasten offiziell heißt, ganz neue Perspektiven. Denn im neunten Stock - auf den sieben Etagen darunter sind Wohnungen, im Erdgeschoss befinden sich Geschäfte - öffnet ein Café. Die Menschen strömen in Scharen dorthin, um ihre Stadt bei Kaffee und Kuchen aus der Vogelperspektive zu erleben. Viele Hochzeitsgesellschaften wollen im „Panorama“ dem Himmel ein Stück näher sein. „Das war damals ein Kult-Café“, berichtet Sven Abromeit, Bereichsleiter des Verlags Gebrüder Gerstenberg, der den fotografischen Nachlass Theo Wetteraus betreut.
Der rückt ein paar Jahre später immer häufiger mit seiner Kamera aus, um bei Hildesheimer Höhenflügen dabei zu sein. Denn Mitte der 60er Jahre verfallen die Stadtväter auch hier dem Gedanken, Modernität drücke sich durch eine große Zahl von Hochhäusern aus. „Es herrschte Aufbruchstimmung, ein ungebremster Glaube an den Fortschritt“, erklärt die Wissenschaftlerin Kozok.
Und so beginnt die Stadt, sich ihre nähere Umgebung einzuverleiben und architektonisch untertan zu machen. In Hildesheim drückt sich diese Haltung zuerst am Godehardikamp aus, wo am Propsteihof drei achtstöckige Klötze entstehen und fortan den Blick vom benachbarten Rottsberg auf die Innenstadt bestimmen. Auch das bis dato eher beschauliche Ochtersum erfährt eine Verwandlung: Unmittelbar hinter der Bundesstraße 243 nach Bad Salzdetfurth, am Ortseingang, finden drei Wohngebäude mit jeweils elf Geschossen ihren Platz - mit Fassaden aus grauen und weißen Eternitplatten, zwischen denen Leichtmetallfenster blinken. Als Clou gelingt es dem Architekten Heinz Geyer, alle Räume in Richtung Süden auszurichten. „Das ist sehr gelungen“, findet Kozok noch heute.
Besonders augenfällig drückt sich der Zeitgeist in Neuhof aus. Am Trockenen Kamp, direkt an der Robert-Bosch-Straße, werden zwischen 1970 und 1976 sogar vier Hochhäuser gebaut, teilweise mit bis zu elf Etagen. Neben jungen Familien finden auch viele Gastarbeiter, die ihr Geld bei Bosch-Blaupunkt im Hildesheimer Wald verdienen, hier ein Zuhause - darunter junge Türkinnen, die so manchen Einheimischen irritieren.
Gerade die Neuhofer Türme sind selbst noch drei Jahrzehnte später als Wohnsitz beliebt. Manch andere Bauten aus dieser Zeit lassen sich allerdings im Jahr 2008 eher schwer an den Mann oder die Frau bringen. Manche sind auch bereits von der Abrissbirne zu Fall gebracht worden, zum Beispiel ein Hochhaus in der Drispenstedter Lohdestraße.
In Hildesheim setzt der architektonische Katzenjammer bereits Mitte der 70er Jahre ein. „Auf einmal ist wieder Ästhetik statt Funktionalität gefragt, Maßstäblichkeit statt Brutalität“, fasst Expertin Kozok die Stimmung zusammen. Immer lauter werden nun jene Stimmen, die dem „alten“ Hildesheim hinterhertrauern - eine Bewegung, die letztlich 1989 zum Wiederaufbau des Knochenhauer-Amtshauses führt.
Den erlebt Theo Wetterau nur noch durch Erzählungen. Eine Krankheit verbietet es dem Fotografen, der bereits zwölf Jahre zuvor in den Ruhestand nach Berlin gegangen ist, zu reisen. Was Wetterau von den Hochhäusern des „neuen“ Hildesheim gehalten hat, lässt sich auf seinen Bildern nicht erkennen - ganz Profi, wie er war, sind die Aufnahmen im besten Sinne ordentlich. Seine Liebe zum Fachwerk-Hildesheim ist indes durch seinen Nachlass verbürgt. Er wäre gewiss froh gewesen, den Marktplatz noch einmal in seinem einstigen Gewand - ohne das „moderne“ Hotel Rose - zu fotografieren. So, wie er es vor 1945 unzählige Male getan hatte.
(Auszug Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 16. August 2008)
Erst passiert jahrelang gar nichts – dann rücken am Bahnhof doch Baukräne an: 1973 beginnen die Arbeiten für die „Kaufhalle“, die zwei Jahre später eröffnet wird. Heute steht das Gebäude leer, 2009 sollte eigentlich die „Bernward-Galerie“ einziehen.
Das „Panorama“-Konzept: Unten einkaufen, darüber wohnen, ganz oben Kaffeetrinken.
Sie prägen bis heute den Ausblick vom Rottsberg: Am Propsteihof lässt der Beamtenwohnungsverein in den 60er Jahren drei Mehrfamilienhäuser mit jeweils acht Stockwerken errichten – drumherum ist Platz für Häuslebauer, die es gern auch kleiner nehmen.
Hier ist die Post mal ganz schnell: 1952 baut der Staatsbetrieb gegenüber vom Bahnhof das erste Hochhaus in Hildesheim.
Zugleich Nachfolger und Vorgänger des Knochenhauer-Amtshauses: Das 1964 eröffnete Hotel Rose steht nur zwei Jahrzehnte.
Artikel verpasst?
Jetzt
anfordern!
Immobilienangebote
in Ihrer Stadt.
Jetzt suchen