Als der Mediziner Thomas Williams um 1670 nachts durch die Straßen Londons ging, wunderte er sich über Menschen, die dort augenscheinlich nicht zum Vergnügen unterwegs waren. Der britische Mediziner fand den Grund für die nächtliche Unruhe dieser Menschen heraus und beschrieb als erster das Krankheitsbild der Ruhelosen Beine, des Restless-Legs-Syndroms, kurz RLS. Eine Krankheit, die sehr lange nicht ernstgenommen wurde. Seit etwa 35 Jahren befasst sich die Medizin intensiver mit der Krankheit, die zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen in westlichen Industrieländern zählt. Professor Dr. Frithjof Tergau, Chefarzt der Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie im St.-Bernward-Krankenhaus, widmet sich dem Thema seit seiner Spezialisierung zum Facharzt der Neurologie Anfang der 1990er Jahre.
Ständige Unruhe, Zucken, Brennen, Kribbeln und ziehende Schmerzen in den Beinen nachts – Betroffene können kaum ruhig sitzen oder in Ruhe entspannen. Die Beschwerden treten beidseitig oder abwechselnd im linken oder rechten Bein auf, Frauen sind etwas häufiger betroffen. Bis zu zehn Prozent der Menschen in Deutschland haben Anzeichen eines RLS, bei etwa zwei Prozent ist der Leidensdruck so stark, dass sie medizinische Hilfe suchen.
Beim Forschen nach Gründen, warum diese Londoner in der Nacht keine Ruhe fanden, stellte sich heraus, dass die meisten der Betroffenen zur Ader gelassen worden waren. Hatte der Blutverlust mit der Erkrankung zu tun? Heute weiß man, dass ein wichtiger Blutbestandteil Einfluss auf die neurologische Erkrankung hat: ein relativer Eisenmangel im Körper, insbesondere die Werte von Ferritin. „Der Ferritin-Wert sollte gerade bei RLS-Erkrankten sehr hoch sein“, erklärt der Neurologe Tergau. Erst seit wenigen Jahren sind die Eisenspeicher bei der Betrachtung der Krankheit in den Fokus gerückt. Das Eisen wird benötigt, um im Gehirn den Stoff Dopamin herzustellen. Ist zu wenig Ferritin gespeichert, reicht dies nicht aus und RLS wird zumindest begünstigt. Bewegungsimpulse im Schlaf oder in Ruhe werden dann nicht mehr ausreichend unterdrückt und ungefiltert an die Muskeln weitergeleitet.
Niedrige Dopaminwerte führten in der Vergangenheit dazu, dass RLS-Patienten Medikamente erhielten, die den Dopaminstoffwechsel begünstigen. „Das ist ein wirksames Mittel, um bei Flügen oder Theaterbesuchen stillsitzen zu können“, sagt Professor Tergau. Doch als Dauermedikation verschlimmern diese Medikamente die Symptome der Krankheit. Heute werden meist Pregabalin und Gabapentin verordnet. Mittlerweile wird der Eisenmangel behandelt, sobald der Wert abnormal ist.
Dieser Eisenmangel ist nicht mit dem landläufig bekannten zu vergleichen, bei dem Betroffene schlapp und energielos sind. Beim allgemeinen Blick auf die Werte nach der Blutentnahme fällt das Defizit gar nicht auf; die Ferritin-Werte können normal erscheinen. Das offenbart sich erst bei der differenzierten Betrachtung. „Der Eisenmangel wird aktuell auch mit Eisensubstitution und gegebenenfalls Infusionen therapiert“, erklärt Tergau.
„Lustige Beine“, so wurde RLS früher genannt, weil sie machten, was sie wollten. Für den Erkrankten ist der Zustand alles andere als lustig. Die Beine kribbeln und peinigen den Menschen von innen, die Gliedmaßen zucken auch sichtbar. Bewegung bringt oft kurzfristige Erleichterung, wie schon die Menschen um 1600 in London wussten. Nackte Füße auf kalten Fliesen oder eine kalt-warme Dusche können ebenfalls kurzfristige Linderung bringen. Mitunter reicht die Zeit dann, um zumindest einzuschlafen. Doch auch nachts stoppen die Beinbewegungen nicht, was dazu führt, dass der Betroffene nicht in die Tiefschlafphase kommt.
Neben dem Eisenwert spielt Vererbung eine große Rolle. Untersuchungen von Familienstämmen ergaben, dass die Krankheit vererbt wird, und betroffene Familienmitglieder werden immer jünger. Allgemeine Unruhe oder ein großer Bewegungsdrang begünstigen die Krankheit nicht, erklärt der Neurologe. Gleichwohl kann zu viel Bewegung am Tag dazu beitragen, dass die Beine am Abend besonders unruhig werden. Opiate sind weitere Medikamente, die den Erkrankten Erleichterung verschaffen. „Schon Thomas Williams wusste das und setzte Laudanum ein“, erzählt Tergau.
Heilbar ist die Krankheit bis heute nicht, aber in den vergangenen 35 Jahren hat sich viel getan. Die Krankheit ist anerkannt, Diagnose und Behandlung haben sich verbessert, erklärt der Mediziner, sodass vielen Betroffenen Erleichterung verschafft werden kann.
Andrea Hempen