Vor Operationen muss man nüchtern sein – das weiß jeder, der sich schon einmal einem Eingriff unterziehen musste, andere haben davon zumindest gehört. Für diese Regel gibt es einen guten Grund: Sonst könnte während einer OP Mageninhalt in die Lunge gelangen – was zu Entzündungen führen kann, aber auch zu Blutvergiftungen. Doch was heißt „nüchtern“ eigentlich? Um welche Zeiträume geht es da genau?
Bei festen Mahlzeiten gelte die Sechs-Stunden-Regel, sagt Dr. Alfred Flaccus, Leitender Oberarzt in der Anästhesiologie im Hildesheimer Helios Klinikum. Wobei er betont: Gemeint sei damit leicht verdauliche Kost, zum Beispiel Joghurt oder Toast. Bei klaren Flüssigkeiten dagegen ist die Karenzphase – also die Zeitspanne, in der Patienten nichts mehr zu sich nehmen sollen – deutlich kürzer. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin in ihren Leitlinien, dass Wasser und Apfelsaft, aber auch Kaffee mit einem Schuss Milch, allerspätestens noch zwei Stunden vor einer OP erlaubt sind.
Doch so gut gemeint diese Vorgabe angesichts möglicher Risiken auch ist: Es habe sich herausgestellt, dass die Zwei-Stunden-Regel für das Trinken gerade für ältere Patienten und solche mit bestimmten Vorerkrankungen gravierende Nachteile mit sich bringen könne, erklärt Dr. Flaccus. So bestehe die Gefahr, dass die Betroffenen dehydrierten, also austrockneten. Erst recht, wenn sie schon lange vor den zwei Stunden das letzte Mal etwas getrunken haben.
Die Folgen können erheblich sein. So zeigt eine Studie aus dem Jahr 2017, dass bei nachweislich dehydrierten Patienten nach einer Operation viel häufiger Nierenversagen auftritt als bei jenen, deren Flüssigkeitshaushalt in Ordnung war. Auch die Mortalitätsrate – also der Anteil jener Menschen, die sterben – ist deutlich höher. Und zwar sowohl bezogen auf einen Zeitraum von 30 Tagen nach dem Eingriff als auch innerhalb eines Jahres nach der OP.
Der Befund werde durch eine weitere Studie gestützt, berichtet der Mediziner aus dem Helios Klinikum. So träten bei dehydrierten Patienten, die sich einer Hüft-OP unterziehen mussten, viel öfter Komplikationen wie Herz-Kreislauf-, Atemwegs- oder neurologische Probleme auf. Zudem seien Menschen, die das letzte Mal sechs Stunden vor der Operation etwas getrunken hätten, anschließend deutlich häufiger verwirrt als jene, die noch später Flüssigkeit aufgenommen hätten.
Gleichzeitig zeigten andere Untersuchungen, dass gerade klare Flüssigkeiten wie Wasser deutlich eher im Magen abgebaut würden als lange angenommen, erklärt Dr. Flaccus. „Das ist schon nach 20 Minuten fast nichts mehr nachweisbar.“ Das heißt: Die jahrzehntelange Vorsicht auch beim Trinken war überhaupt nicht nötig.
Und so fahren die 48 Anästhesisten am Hildesheimer Helios Klinikum, das sich dabei unter anderem auf Forschungen des Emil-von-Behring-Helios-Klinikums in Berlin stützt, in Sachen Nüchternheit seit zwei Jahren einen anderen Kurs. „Unsere Patienten dürfen bis zu dem Moment, in dem sie für den OP-Saal abgeholt werden, alle klare Flüssigkeiten trinken“, sagt Dr. Flaccus. Das Motto laute sozusagen, zugespitzt formuliert: Trinken, bis die Pflegekraft kommt!
Die Patienten und Patientinnen empfinden das als große Erleichterung, berichtet der 60-Jährige, nach dessen Angaben im Hildesheimer Helios Klinikum bis zu 12.000 Operationen im Jahr stattfinden. Vor allem ältere Menschen, die bereits vor einigen Jahren einmal operiert worden, würden sich über die Neuerung sehr freuen: „Wir bekommen sehr positive Rückmeldungen.“ Zudem mache es angesichts dieser Nachricht auch vielen Patienten weniger aus, wenn sich ein Eingriff mal verschiebe.
Damit OP-Patienten die Hinweise zur Nüchternheit auch wirklich beherzigen und nicht bereits Stunden vor dem Eingriff unnötig dursten, drücken Dr. Flaccus und dessen Kollegen ihnen bei dem obligaten Aufklärungsgespräch vor einer Narkose seit etwa einem halben Jahr einen grünen, mehrsprachigen Merkzettel im Postkarten-Format in die Hand. Auf dem stehen noch einmal sämtliche Regeln auf einen Blick – so erfahren auch Angehörige, was unter dem Begriff „Nüchternheit“ genau zu verstehen ist.
Rainer Breda