Hildesheim - Neben schönen Erinnerungen ist mir eine Frage im Kopf geblieben, seit ich auf der Arena-Tour meines Lieblingskünstlers war, liebe Julia: Wann ist der Drang, sich auf Konzerten selbst zu inszenieren, so groß geworden? Variante 1: Ein Heiratsantrag. Eine mit Tausenden fremder Menschen gefüllte Halle für diesen intimen Moment? Herzlichen Glückwunsch, aber nix für mich. Auch die Situation war komisch. Denn der angehende Bräutigam wartete nicht etwa den schönsten Lovesong ab, sondern wählte für die Frage aller Fragen ausgerechnet das Lied, in dem der Sänger eine Exfreundin besingt, bei der er verkackt hat. Gestört hat aber vor allem das, was der Antrag nach sich zog: Alle Augen und Handys waren nun auf die Turteltauben gerichtet, es gab Gekreische und tosenden Applaus. Mitten im traurigen Song, bei dem der Künstler vom unerwarteten Gegröle überrumpelt wurde. Puh: Er ist doch auch ein Mensch, der da gerade vor sehr vielen Leuten auftritt, und dem das – wie er nur kurz zuvor erzählte – nicht immer leichtfällt. Ist es nicht respektlos, ihn auf diese Art zu unterbrechen und zu irritieren?
Die Heiratswilligen waren aber nicht die Einzigen, die ihm die Show stahlen. Variante 2 der Selbstinszenierung: Seine Kinder auf die Bühne schicken wollen. Diesmal in Form einer Gruppe, die einfach nicht aufhörte, zu kreischen – bis der Künstler es irgendwann aufgab, sie zu ignorieren. Doch Pech gehabt: Er hatte seine Brille nicht auf und konnte das Schild des Kindes nicht lesen. Das konnte ich auch nicht, aber mit großer Wahrscheinlichkeit stand drauf: „Ich will mit dir singen“. Haben wir doch auch schon zig Mal auf Instagram und Tiktok gesehen. Ja, hurra, eine Millisekunde Bekanntheit – aber ehrlich gesagt kann so ein Gastauftritt nicht nur süß, sondern auch ziemlich peinlich werden. Alles schon erlebt. Und sollten wir nicht eigentlich allein deswegen gekommen sein und viel Geld gezahlt haben, um das Konzert zu sehen? Wäre schön, wenn wir uns daran erinnern – und wieder lernen, im Moment zu sein. Auch das blieb mir nämlich im Kopf. Nachdem der Künstler nur für einen Song drum bat, die Handys wegzustecken, war die Energie in der Halle völlig verändert und viel intensiver. Ich ließ mein Handy auch danach in der Tasche – und wer hätt’s gedacht?: Jetzt war’s noch viel schöner. Arm in Arm sang ich mit meiner Freundin die Lieder mit, die wir so gern hören, und am Ende hatte ich beide Hände frei, um mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Passiert aber nur, wenn man sich aufs Konzert fokussiert.
In der Kolumne „Unter uns“ schreiben die HAZ-Redakteurinnen Katharina Brecht und Julia Haller im Wechsel über Themen, die nicht nur Frauen um die 30 bewegen.